GOA-Texte:Über die Notwendigkeit...

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Innerlich fluchte der alte Mann und warf sich erneut gegen den knorrigen Stamm. Unbeweglich verharrte er dort, die Arme an den Seiten baumelnd, mit stockendem Atem und schlagendem Herzen. Auf seinem Gesicht wechselte sich Erleichterung und Traurigkeit, Müdigkeit und Niedergeschlagenheit mit unbestrittener Bestimmtheit ab. Sie war da, leider war sie da, in der Mitte dieses kleinen Tales am Ufer des Sees, der seit Ewigkeiten unverändert dahinglitt.

Oh, warum nur im Namen des Lichtes musste sie heute da sein ? Warum, warum ? Langsam ließ er sich an der rauhen Rinde hinabgleiten und nahm seinen Kopf in seine Hände voller Schwielen.

Seitdem er das kleine Dorf Ludlow verlassen hatte, war er lange marschiert. Die letzten drei Tage hatte er unendlich viele Meilen zurückgelegt, viele steile Hänge erklommen und tiefe Schluchten überquert, er hatte so viel Energie aufbringen müssen... fast wäre er ertrunken, als er einen von den Frühlingsregen angeschwollenen Fluss überqueren musste, und zwei mal, zwei mal ! wäre er beinahe den verfluchten Patrouillen der Elfen und der Lurikeen in die Hände gefallen, die diese Gegenden heimsuchten. Glücklicher Weise hatten sie ihn nicht entdeckt, ha, es hatte schon seinen guten Grund, dass er damals als einer der besten Kundschafter des Reiches galt. In der Tat bemerkte er stolz, dass die Jahre noch nicht alle seine Reflexe gemindert hatten und dass seine physische Kondition noch sehr wohl mit vielen dieser jungen, selbstzufriedenen Fettwanste mithalten konnte, die noch nicht 20 Frühlinge gesehen hatten.

Zwanzig Jahre, zwanzig Jahre war es her, dass er durch diese Täler gestreift war, dass er sich in diesen Büschen versteckt gehalten hatte, dass er in den eisig kalten Flüssen watete, dass er sich an diesen steilen Gipfeln orientiert hatte. Zwanzig Jahre, dass er sie nicht mehr gesehen hatte. Oh, sicherlich war er noch jung damals, und wohl auch eingebildet, zumindest seiner Kraft und seiner Fähigkeiten sicher. Der Krieg hingegen war schon alt und grässlich, aber er sah dies damals noch nicht, es brauchte noch einige Jahre und viele Verluste, bis er die Hässlichkeit erkannte, die sich hinter einem gezogenen Schwert verbarg.

Ja, vor zwanzig Jahren war er verletzt und verfolgt vor den leblosen Körpern seiner Kameraden und Feinde auf unsteten Beinen getflohen. Mit jedem seiner Schritte hatte sein Blut rote Blumen in das grüne Gras Hibernias gemalt.

Er hatte keine Wahl, die Zauberin hatte sich überaus klar ausgedrückt. Es gab kein Heilmittel, keine Alternative, das Böse war zu tief verwurzelt, das Schicksal der kleinen Arya unwiderruflich besiegelt und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie in das Licht eingehen würde. Außer wenn... Ein Leben für ein Leben... hatte sie ihm mit ihrer Reibeisenstimme versichert, wobei ihr Blick plötzlich gebieterisch wie nie zuvor wurde. Er hatte Angst gehabt, unglaubliche Angst. Einige Zeit hatte er diesem hasserfüllten und giftsprühenden Blick Stand gehalten, bis aufs Knochenmark versteinert und unfähig, die geringste Bewegung auszuführen. Sie hatte ihn immer eingeschüchtert. Wer hätte keine Angst vor denjenigen, die sich trauen, in den Tiefen der nebligen Wälder zu leben, die einige Täler der Schwarzberge bedecken ? Aber in jenem Moment war er bis auf die Knochen erschrocken und erstarrt gewesen. Abrupt hatte er sich umgedreht und hatte ungeschickt den Ort verlassen, in seiner Hast stolpernd, und während er versuchte, so schnell wie möglich der verdammten Hütte zu entkommen, drückte er vorsichtig das kostbare Kind, dessen Zustand sich von Stunde zu Stunde verschlechterte, gegen seine Brust.

Er hatte zwei Nächte gebraucht, in denen er sich schlaflos von einer Seite auf die andere warf, bis er eine Entscheidung getroffen hatte, und war schließlich, mit einem Gefühl unglaublicher Ermattung, im Morgengrauen des dritten Tages aufgebrochen, den Tod im Herzen, und den Tod auch fest umschlossen in seiner rechten Hand.

Und nun, ach, hatte er sie wieder gefunden, ihre Mähne war genauso weiß wie damals, ihre Brust genauso stark, ihr Kleid pur wie zuvor, ihr sanfter Blick voll unmenschlicher Weisheit. Ihr Einhorn, auf dem die letzten Lichtreflexe der untergehenden Sonne spielten, war stolz erhoben, leuchtend und golden, wohl so wie am ersten Morgen der Schöpfung. Das Horn, das einzig fähig war, das Leben eines jungen Mädchens zu retten, das in einem anderen Reich im Sterben lag.

Er hatte sich nun wieder aufgerichtet, und die Einhornstute hatte ihn gesehen. Im übrigen hatte sie ihn riechen müssen, so wie sie ihn damals bemerkt hatte. Nun sah sie ihn mit diesem puren und klaren Blick an, mit diesem unergründlichen Blick, in dem er Güte und unendliches Mitleid zu finden glaubte. Sie sah ihn mit derselben schmerzhaften Intensität an, wie an jenem Tag vor zwanzig Jahren, an dem er bis zu ihren Füßen gekrochen war und sich mit letzter Kraft auf ihren Rücken gezogen hatte. Er hatte seine Sinne verloren, während sie ihn zurück ins Leben brachte.

Und nun... Ein Leben für ein Leben...

Tränen strömten unaufhaltsam seine Wangen herunter...

Er spannte seinen Bogen und schloss die Augen...